Ein Zwischenresümee zum Corona-Infektionsgeschehen, Krisenmanagement und zur politischen Ethik

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Ein Virus als Störfaktor im System „Menschheit“:

Man könnte das gegenwärtige Menschheitsgeschehen mit einem von mehreren Computern gesteuerten Maschinensystem vergleichen: viele Bereiche mit „Rädchen“, die alle zusammenwirken. In manchen Bereichen hakt es, Untersysteme fallen zeitweilig aus, die Schaltzentralen regulieren; aber auch wenn Teile zeitweilig nicht richtig funktionieren, die Gesamtmaschinerie läuft.

Das System „Menschheit“ war bis zum Anfang des Jahres 2020 trotz partieller Ausfälle am Laufen, auf das Gesamte gesehen. Dann trat ein unvorhergesehener Störfaktor auf, der die Maschinerie bis auf den Notbetrieb sukzessive zum Stillstand brachte. Es war eine winzige organische Struktur, nicht einmal ein Lebewesen, die sich in die Ablaufprozesse einmischte, sie nachhaltig störte und für Ausfälle sorgte: das Sars-Cov-2-Virus. Seitdem versucht die Menschheit den Störfaktor zu regulieren. Ihn auszumerzen erscheint vorerst als aussichtslos, auch die Regulierung gelingt bisher nur in Ansätzen. Wird es der Menschheit schaffen, den Eindringling unschädlich zu machen oder wenigstens so zurückzudrängen, dass da, wo das bisher möglich war, wieder ein einigermaßen "normales" Leben geführt werden kann? Sollte das gelingen, sind allerdings die Schäden, die das Virus anrichtet, nicht beseitigt, es werden immense Folgen zu bewältigen sein, nicht nur wirtschaftlicher Art. Können wir überhaupt das Einbrechen des Virus in unsere gewohnten Lebensabläufe und den Ablauf der Weltprozesse als lästigen „Störfaktor“ abtun, wird mit seinem Auftreten nicht unübersehbar, was es in unserer Gesellschaft und der Menschheitsgemeinschaft an grundlegenden Hindernissen für eine humane Welt gibt? Einfach die "Maschinerie" wieder anlaufen und rattern lassen wie früher sollte nicht das Ziel der Pandemie-Bekämpfung sein.

Die Erkrankung, die das Virus und seine inzwischen entstandene „Nachkommenschaft“ hervorrufen kann, Covid-19, hat sich von einer regionalen Epidemie zur weltweiten Pandemie entwickelt. Sie ist damit zu einer Menschheitsbedrohung geworden, wie Klimawandel, Antagonismen der Großmächte, Armut, kriegerische Konflikte, Terror, drohende Ausfälle von technischen Systemen … Eigentlich müssten Krisen, auch die „Corona-Krise“ die Menschheit zur gemeinsamen Bewältigung zusammenführen. Ansätze dazu sind da, aber eine grundlegende Kooperation ist nicht eingetreten, im Gegenteil, in mancher Hinsicht haben sich Spaltungen und Konkurrenzverhalten vertieft.

 

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Die Pandemie ist menschengemacht

Unabhängig davon, wie und wo sich das Virus auf den Weg gemacht hat, die Pandemie ist „menschengemacht“. Es besteht noch keine Klarheit, woher das Virus kommt. Die von den meisten Wissenschaftlern und auch von der WHO vertretene Hypothese ist: Wildtiere, wahrscheinlich Fledermäusen, übertrugen das Virus auf Zwischenwirte, die in chinesischen „Wet Markets“ in den Handel kamen. Die andere These ist: Corona-Viren wurden im „Wuhan Institute of Virology“ genetisch für die Anpassung an Menschen manipuliert, eine Mitarbeiterin hat sich infiziert und das Virus hinausgetragen. Wie auch immer: menschliches Verhalten hat dem Virus den Weg gebahnt. Dass es sich über die ganze Welt verbreiten konnte, hängt mit menschlichen Versäumnissen und der die moderne Welt kennzeichnenden Mobilität zusammen. Die Rede von einer „Naturkatastrophe“ lenkt von diesen Tatbeständen und Folgerungen, die daraus zu ziehen wären, ab.

Das Virus kennt nur sein Programm

Ganz falsch ist diese Rede aber nicht, denn das Virus ist ein Bestandteil der „Natur“. Es agiert nach der ihm innewohnenden naturgesetzlichen Weise, nach dem genetischen Programm, das es kennzeichnet. Wie das Sars-Cov-2-Virus auf uns Menschen übergeht, wie es in unseren Zellen wirkt, das wissen wir inzwischen und das braucht nicht wiederholt zu werden. Hier soll nur festhalten werden, dass das Virus einen „Wirtskörper“ zur Lebensfähigkeit und Vermehrung braucht. Um im Bild zu bleiben: unser Körper bietet ihnen ein einladendes „Gasthaus“, in dem sie auf unsere Kosten „zechen“.

Wir wissen auch, dass das Virus anpassungsfähig ist. Treffen Viren auf Gegenwehr in ihren bevorzugten Wirtskörpern, dann können sie sich verändern, durch Mutation, also genetische Veränderung, und Selektion, das bedeutet, die Überlebensfähigsten setzen sich durch. Die Viren mutieren solange, bis sich einige finden, die die Gegenwehr bei ihren „Wirten“ überwinden. Wenn sich Viren stark verbreitet haben, häufen sich die Mutationen und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass überlebensfähigere, aggressivere und ansteckendere Varianten als die bisherigen entstehen. Viren folgen ihrem Programm und nutzen jede Möglichkeit, sich zu verbreiten. Menschliche Ignoranz, Nachlässigkeit und prekäre Verhältnisse sind ein guter Nährboden für sie. Zugute kommt den Viren auch, dass sie sich unsichtbar, schleichend verbreiten und ihre Opfer rasch der öffentlichen Aufmerksamkeit durch Isolierung oder Hospitalisierung entzogen werden.

In reduzierter Sichtweise lässt sich die Auseinandersetzung zwischen Virus und Mensch auf eine kurze Beschreibung bringen. Natur trifft auf Natur. Aber es sind zwei sehr unterschiedliche Formen, die interagieren. Einfache organische Strukturen treffen auf ausdifferenzierte Organismen, die zudem in komplexen Verbünden (Gesellschaften) leben. Viren sind wie alle organische Formen bestrebt zu überleben und haben Überlebensstrategien entwickelt. Die Gattung Virus, mit der wir es zu tun haben, überlebt nur in der Interaktion mit höher entwickelten Organismen, deren Zellen es sein Überlebenskonzept aufzwingt. Die Interaktion besteht in Kooperation und Antagonismus. Die eventuelle Vernichtung des besetzten Organismus ist in die „Viren-Strategie“ einbezogen. Gehen Viren mit ihrem Wirts-Organismus zugrunde, haben sie vorher zu Erhalt und Verbreitung ihrer Gattung beigetragen. Für Viren sind Einzelverluste unerheblich, doch nicht für uns Menschen. Wir verstehen uns als Individuen mit dem Recht auf ein eigenes Leben. Jeder Verlust ist schmerzlich.

Wenn der Mensch in der Auseinandersetzung bestehen will, muss er die Wirkweise des Gegners kennen, also ein Stück weit mit ihm kooperieren, und die eigenen Möglichkeiten der Gegenwehr aktivieren, antagieren. Nach diesem Grundsatz sind übrigens Impfungen gegen das Virus entwickelt worden.

Wir müssen eine wirksame „Strategie“ gegen die Viren entwickeln, und zwar eine, die der Strategie der Viren durch unsere Kenntnis des Virus und seiner Wirkungsweise überlegen ist.

Was können wir dem Virus entgegensetzen?

Wir Menschen sind nicht in der Lage, uns kurzfristig an ein neues Virus wie Sars-Cov-2 anzupassen und es von vorneherein erfolgreich abzuwehren. Die "Gedächtniszellen" unseres Immunsystems kennen das Virus nicht. 

Was können wir dem Wirken des Virus entgegensetzen?

Das was Menschen immer angewendet haben, wenn sie sich Herausforderungen ausgesetzt sahen: sie haben ihre Intelligenz und Kreativität ins Spiel gebracht. Mit Hilfe dieser Gaben erfanden sie Werkzeuge, entdeckten Mittel und entwickelten Verhaltensweisen, die ihnen halfen, die Herausforderungen zu bewältigen. Der Forschungs- und Erfindungsgeist oder das Vorangehen einzelner waren immer wesentliche Bestandteile des Erfolgs, aber gemeinsame kollektive Anstrengungen erwiesen sich als genauso wichtig. Dies hat die Menschheit bisher überleben lassen und sie dahin gebracht, dass wir in einem Ausmaß unseren Planeten bevölkern und beherrschen, dass es für das Gesamtsystem „Erde“ geradezu bedrohlich geworden ist.

Unsere Schwächen im Kampf gegen das Virus

Nun haben Menschen aber einige Eigenschaften, die sich gegenüber dem Virus als Schwächen herausstellen. Wir lassen uns nicht nur von Intelligenz und Einsichten leiten, sondern werden auch von Gefühlen bestimmt. Auch sehen wir die Welt verschieden, haben unterschiedliche Einsichten und Interessen. Deshalb ist es schwierig, eine große Zahl von Menschen zum gemeinsamen Handeln zu bewegen. In „normalen“ Zeiten ist das erträglich und gehört zu einer demokratischen Gesellschaft. In ihr ist  die das Aushandeln unterschiedlicher Interessen und Meinungen konstitutiv. Aber können wir uns angesichts des Angriffs gefährlicher Viren die tiefen Spaltungen leisten, die sich in der „Corona-Krise“ in unserer Gesellschaft auftun? Und kann es sich die Menschheit leisten, bei dieser und anderen Bedrohungen in den Antagonismen zu verharren, die Völker und Bündnisparteien spalten?

Es ist nicht nur die hohe Ansteckungsfähigkeit der Covid-19 Viren, die uns anfällig für ihren Angriff machen, sondern auch unsere Uneinigkeit, unsere Erkenntnis- und Interessenunterschiede, unsere Ausgesetztheit an Stimmungen und Gefühle. „Virenprogramm“ steht hier gegen menschliche „Programme“! 

Wir Deutsche leben meist einigermaßen gesichert und haben uns darin eingerichtet. Nach einem Jahr Restriktionen sind wir ungeduldig geworden, wollen wieder unser „normales“ Leben führen. Menschen in vergleichbaren Ländern geht es genauso. Verständlich! Aber Viren kümmern sich nicht um unsere Befindlichkeit, unsere Einwände und Widerstände, sie folgen unbeirrt, naturgesetzlich, ihrem Programm. In Ländern mit weniger hohen sozialen und wirtschaftlichen Standards sind es handfestere Umstände, die Menschen für das Virus anfällig machen: Armut, Mangelernährung, fehlende Bildung, Untätigkeit der Verantwortlichen ... Aus den sozialen Umständen resultieren andere Stimmungslagen als bei uns (die allerdings uns auch befallen können): Gleichgültigkeit, Resignation, Ohnmachtsgefühle, Ratlosigkeit ... Wie bei uns ignorieren und verleugnen Menschen die Gefahr, aber aus anderen Gründen als in den "reichen" Ländern - man kann es sich nicht leisten, dem Virus allzu viel Beachtung zu schenken. Auf diese Lage nehmen die Viren genausowenig Rücksicht wie auf unsere.

Genügt Medizinische Technik?

Trotz alledem: auch der Herausforderung durch die Covid-19-Viren können wir durch Intelligenz, Kreativität, geeignete Mittel, angemessene Verhaltensweisen, entschlossenes, solidarisches und kooperatives Handeln begegnen.

Zunächst einmal bringt uns wissenschaftliche Forschung, vor allem die Virologie, fortlaufend – wenn auch sich verändernde - Kenntnisse über das Virus und spricht Empfehlungen zum Umgang mit ihm aus. Wir wissen, dass sich die Viren über Kontakte verbreiten, deshalb sind Kontaktminimierung und Abstandswahrung die vordringlichsten Verhaltensweisen. Das zweite sind Hygienemaßnahmen und -mittel wie das Tragen von Atemschutzmasken und Händedesinfektion. Sehr früh hat man Tests entwickelt, die die Infektionen, auch symptomlose, nachweisen. Auf diese Weise kann man Infizierte isolieren und Kontakte nachverfolgen. Dass in relativ kurzer Zeit wirksame Impfstoffe entwickelt wurden, ist eine große wissenschaftliche, medizin-technische und zivilisatorische Leistung. (Die geschäftliche Seite der Produktentwicklung ist allerdings nicht zu übersehen und sie hat kritisch zu beurteilende Aspekte.). Wir können auch hoffen, dass mit derselben Effizienz und Schnelligkeit wie bisher Anpassungen der Impfstoffe an neue Virusvarianten möglich sind. Mit Impfungen und Tests haben wir zwei starke Mittel in der Hand, um die Ausbreitung der Viren zu hemmen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie in ausreichendem Maß vorhanden sind, nicht nur für einzelne Länder, sondern für die gesamte Weltbevölkerung.

Doch medizinische „Technik“ allein wird nicht ausreichen, dass wir Menschen uns gegen das Virus behaupten. Mitentscheidend, ob wir gewinnen, ist unser Verhalten. Fangen wir bei uns an, richten wir den Blick zunächst auf uns und unser Land! In der demokratisch verfassten Gesellschaft, in der wir in Deutschland leben, pflegen wir die Meinungsvielfalt. Ein Teil der Bürger ist allerdings nicht bereit, wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen über das Wirken der Viren und daraus abgeleiteten Verhaltensempfehlungen zu folgen, sondern beharrt auf bisweilen von dubiosen Quellen genährten kontraproduktiven „Meinungen“. Weiterhin sind nicht alle dazu zu bewegen, dass sie sich diszipliniert, rücksichtsvoll und kooperativ verhalten. Die "freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit" ist ihnen wichtiger als die gebotene Rücksichtnahme auf die Gefährdeten. Das sind Hemmnisse in der Bekämpfung der Pandemie - abgesehen davon, dass mangelndes Mitgefühl mit dem Leid der Erkrankten, vorzeitig Sterbenden, ihrer Angehörigen und der Belastung der Pflegenden kein guter menschlicher Zug ist.

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Politik muss eingreifen

Hier zeigt sich, dass es bei einer kollektiven Gefährdung wie der Covid-19-Pandemie nicht nur um privates Verhalten gehen kann, sondern der Staat gefordert ist. Das deutsche Grundgesetz schützt nicht nur die "Freiheit der Person", sondern auch das Recht "auf Leben und körperliche Unversehrtheit" (Art. 2,2). Die Bundesregierung hat damit nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht Vorsorge für die Gesundheit der Bürger zu treffen. Die geschieht durch Ausführungsgesetze zum Grundgesetz. Sie ermöglichen der Exekutive im Falle einer "bedrohlichen übertragbaren Krankheit" und einer "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" in bestimmten, durch die Gesetze festgelegten Fällen eine zeitweilige Einschränkung oder Aufhebung von Grundrechten.

Daraus resultieren die Maßnahmen und Restriktionen des vergangenen und des jetzigen Jahres. Da nun einmal nicht alle Menschen in der Lage sind die geltenden Regelungen einzuhalten, genügte es nicht, die Verordnungen mit Aufklärung, Beratung und Empfehlungen verständlich zu machen, sondern sie mussten auch mit Kontrollen und Sanktionen verbunden werden.

Diese Maßnahmen waren und sind einschneidend für das persönliche und berufliche Leben der Bürger und nachteilig für viele Wirtschaftszweige. Sie beschränken auch die zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräume, auf denen ein demokratisches Miteinander beruht. Die Einschränkungen führten aber zunächst zu einem starken Rückgang der Infektionszahlen und haben das jetzt wieder bewirkt. Zu frühe Lockerungen Sorglosigkeit der Bevölkerung und mangelnde Kontrollen der Behörden machten im Laufe des Jahres 2020 die erzielten Erfolge zunichte.

Gescheiterte und erfolgversprechende Strategien

Dies führt zu der Erkenntnis: wenn notwendige Restriktionen nicht konsequent eingehalten und bis dahin durchgehalten werden, dass die Infektionszahlen auf ein Minimum gedrückt werden, ist durch Lockerungen ein Wiederanstieg der Infektionen, Krankheits- und Todesfälle zu erwarten. Wir haben es erlebt: Geraten die Infektionen über eine gewisse Grenze, dann steigen sie exponentiell an und ein Karussell der Infektionssteigerungen beginnt sich immer schneller zu drehen. Wir alle und die Politik müsste es erkannt haben: moderate Lockdowns, inkonsequente und unkoordinierte Maßnahmen, mangelnde Kontrolle und verfrühte Öffnungen führt zu einem Wechselbad von Restriktionen, Lockerungen und erneuten Verschärfungen. Diese Politik, die das Geschehen in Deutschland und Europa bestimmte, zieht die Bekämpfung des Virus in die Länge, frustriert die Menschen und schadet der Wirtschaft mehr als ein zeitlich begrenzter, entschiedener, aber erfolgreicher Shutdown.

Unter vernünftigen, wissenschaftlichen und ethischen Gesichtspunkten betrachtet können eigentlich nur die Konzepte „No Covid“ und das radikalere „ZeroCovid“ nachhaltig erfolgreich in der Pandemie-Bekämpfung sein. Beide Konzepte verfolgen das Ziel, die Infektionszahlen durch entschiedene Maßnahmen auf ein Minimum, nahe Null, zu bringen und sie auf dieser Basis zu halten. Erst dann könnten Lockerungen stattfinden, eventuell gebietsweise. Australien und Neuseeland haben gezeigt, dass die Zero-Strategie erfolgreich ist.

In Deutschland und Europa konnten sich die Vertreter dieser Strategien in der Öffentlichkeit und der Politik nicht durchsetzen. Das Gegenargument ist immer, unter den deutschen und europäischen Voraussetzungen sei das nicht machbar. Dies ließe sich widerlegen, wofür aber hier nicht der Raum ist. Eine australische Expertin (Rachael Vernon) hat die Grundlagen für den australischen Weg genannt: “Political will and the public" - Der politische Wille und das Mitgehen der Öffentlichkeit.  Beides ist tatsächlich bei uns nicht vorhanden. Mangelnde Kenntnisse und Aufklärung in der Bevölkerung, Zurückweichen vor unpopulär erscheinenden Entscheidungen bei Politikern, partielle Interessen und Lobbyismus spielen hier eine Rolle. Möglicherweise ist es nun zu spät für die von kompetenten Fachleuten vorgeschlagenen Radikalkuren.

Die in Deutschland und anderen europäischen Länder verfolgte Politik der „Mäßigung“ ist in ein Dilemma geraten. Auf der einen Seite besteht die Forderung Leben und Gesundheit der Bürger zu schützen, auf der anderen Seite werden die Rufe derer, die ihre wirtschaftliche Existenz bedroht sehen, immer lauter.

Nun sucht die deutsche Politik durch „Ausstiegs- und Stufenpläne“ einen Ausweg aus der verfahrenen Situation. Ein von der Bundesregierung und den Ländern verabschiedeter „Fünf-Stufenplan“ soll den Weg in ein „normales“ Leben bahnen. Er besteht aus einem komplizierten Gefüge an schrittweisen Lockerungen, eventuell notwendigen Verschärfungen („Notbremsen“) und Hygienemaßnahmen. Öffnungen und Verschärfungen werden an „Inzidenzwerte“ gekoppelt, die - der jetzigen Lage entsprechend - hoch angesetzt wurden. Angesichts der stagnierenden oder ansteigenden Zahl der Infektionen bleibt es unsicher, ob und wann Lockerungen und Öffnungen realisiert werden können. Offensichtlich sollen die Pläne die von der Krisenpolitik der Regierungen hart Betroffenen beruhigen. Ob dies gelingt, ist fraglich.

Ein wesentlicher Kritikpunkt ist: die Fixierung auf einmal höher, dann niedriger gesetzte Inzidenzwerte führt nicht zu einer grundlegenden Änderung des Infektionsgeschehens. Der Stufenplan verdeckt den Mangel an einem erfolgversprechenden, umfassenden Aktionsplan, der beschreibt, wie man aus dem sich wieder drehenden Infektionskarussell herauskommen könnte. Auch der Ansatz dazu, durch Impfungen und Testungen eine Wende zu erwarten, ist vorerst nur begrenzt erfolgversprechend. Es gibt große Unsicherheiten und Mängel bei der Beschaffung und der Organisation der Verteilung dieser Mittel. Außerdem ist mit Vorbehalten gegen die Impfung in der Bevölkerung zu rechnen. Andere Unsicherheiten kommen hinzu: die Frage der Wirksamkeit der bisher verfügbaren Impfstoffe gegen neue Virusvarianten, die Unklarheit wie lange sie schützen, Zweifel an der Verläßlichkeit von Laien-Schnelltests und dem Umgang mit ihnen ... Eine "Anti-Covid-19-Strategie", die unter diesen Umständen vor allem auf Impfungen und Tests aufbaut, aber andere Aspekte vernachlässigt, ist lückenhaft und kurzsichtig. Da sind Enttäuschungen vorprogrammiert. 

Insgesamt eine vom Virus nach Punkten gewonnene Runde im Kampf um die Vorherrschaft. 

Der deutsche Weg: Ein Mangel an Planungskompetenz und ethischer Orientierung

„Lockerungen? Die Lage spricht dagegen, aber wir machen es trotzdem!“
(Motto deutscher Ministerpräsidenten)

Man kann nun nicht den Regierungen die alleinige Schuld an dem Dilemma zuweisen, in das sie durch ihr „Krisenmanagement“ geraten sind. Ursache ist auch das ignorante und disziplinlose Verhalten von Teilen der Bevölkerung. Bei angemessenem Verhalten aller wären rigide Restriktionen nicht nötig, sondern würden plausible Empfehlungen genügen.

Verantwortliche Politiker werden wohl auf Stimmen und Stimmungen in der Bevölkerung achten, aber müssen ihnen nicht folgen. In Anbetracht der Versäumnisse und Defizite der Politik wird man nicht nur einem Mangel an Planungskompetenz, sondern auch an ethischer Orientierung sprechen, letzteres zumindest, was die letzte Phase betrifft.

Von den Erfordernissen einer humanen Ethik her, die auch im Grundgesetz ihren Niederschlag gefunden hat, ist Politik verpflichtet „Vorsorge“ für Leben und Gesundheit der Bürger zu treffen.

Das Grundrecht auf „gesichertes Leben und Unversehrtheit“ ist die Basis aller anderen Grundrechte, die darauf aufbauen (Henry Shue: „Basic Rights“, 1996). Die Wahrung dieses Grundrechts hat Priorität vor allen anderen Erwägungen. Nach dem „Gleichheitsgrundsatz“ des Grundgesetzes (Art. 3) schließt das die Wahrung des Lebens- und Schutzrechtes von Schwachen, Gefährdeten und Benachteiligten ein. Dies sieht auch das Bundesverfassungsgericht so:

Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert … [der Staat ist] gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet es dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen …
(BVG 15.02.2006; betr. Luftsicherheitsgesetz)

Die Wahrung dieses elementaren Grundrechts bedeutet auch „Vorsorge“ in komplexen und unsicheren Bedrohungssituationen zu treffen. Das im Europarecht aufgenommene „Vorsorgeprinzip“ 

... ermöglicht Entscheidungsträgern Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen, wenn bei einer … Gesundheitsbedrohung die wissenschaftlichen Aussagen unsicher sind und ein hohes Risiko besteht.
(Europäisches Parlament, Think Tank).

Das sind ethische Maßstäbe und Handlungsprinzipien, die für die deutschen Regierungen und ihre Unterorgane verbindlich sind.

Es ist positiv zu werten, dass unsere Regierungen bisher dem Schutz der „Vulnerablen“ Vorrang vor utilitaristischen Bestrebungen eingeräumt hat. Durch das Auftreten neuer Virusvarianten geht es aber nicht nur um den Schutz älterer und vorerkrankter Menschen. Die neuen Virusmutanten gefährden nicht nur ältere und „vorerkrankte“ Menschen, sondern auch Jüngere und Widerstandsfähigere.

Der jetzige „Strategiewechsel“ – der keiner ist - macht den Eindruck, dass unsere Politiker, Minister und Ministerpräsidenten dem Druck von Teilen der Bevölkerung und Lobbyisten nachgegeben haben, opportunistisch agieren und nicht nach situationsangemessenen sachlich-wissenschaftsbasierten und verantwortbaren ethischen Maßstäben in einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ handeln. Es ist fraglich, ob in den neuen Beschlüssen das Lebensrecht Gefährdeter und das gesundheitliche „Vorsorgeprinzip“ für diese Gruppen - sowie der Bevölkerung überhaupt - genügend beachtet wurden.   

[Damit soll nicht in Frage gestellt werden, dass Politik im „sozialen Bundestaat“ Deutschland (GG, Art. 20, 1) auch die ethische Pflicht hat für das „Existenzrecht“ wirtschaftlich von der Krise Bedrohter „Vorsorge“ zu treffen. Ein Sozialstaat  wird einen gerechten Ausgleich der Lasten schaffen. Zur Gerechtigkeit gehörte, "Krisengewinner" in besonderem Maße an den öffentlichen Kosten zu beteiligen.]

Von der Sache her gesehen entspricht der Regierungsplan nicht einmal dem vom RKI entwickelten „evidenzbasierten“ „Vier-Stufen-Intensitäts-Konzept“ („ControlCovid“), das eine „Basis-Stufe“ der 7-Tage-Inzidenz von weniger als 10 vorsieht – wobei auch andere Faktoren berücksichtigt werden, so die Auslastung von (regionalen) Intensivstationen. Das RKI-Konzept hält die alleinige Koppelung von Stufen an Inzidenzwerte für nicht ausreichend. 

Der Regierungsplan bindet die Inzidenzwerte an Land und "Region". Er ermöglicht damit unterschiedliche Schritte in kleineren Räumen, etwa auf der Ebene von Landkreisen. Dies könnte sinnvoll sein. Es wäre vertretbar, in Landkreisen mit sehr niedrigen Inzidenzwerten, Geschäfte, Restaurants, Hotels und Kulturstätten mit einem strengen Hygienekonzept zu öffnen. Dann müsste man dafür sorgen, dass Einwohner aus Regionen mit hohen Inzidenzwerten keinen Zugang erhalten. Unkoordiniert dürfte die regionale Zuständigkeit zu einem "Flickenteppich" von unterschiedlichen und wechselnden Maßnahmen in den einzelnen Regionen führen, zwischen denen Einwohner je nach dem Maß der Öffnungen und Restriktionen hin und her pendeln.  Es zeichnet sich auch ab, dass Landkreise sich nicht an die im Regierungsplan vorgegebenen Inzidenzwerte halten, sondern sie nach eigenem Gutdünken abändern oder vorgesehene Schritte aussetzen. Zudem wird immer nur nach dem steigenden oder fallenden Inzidenzwert reagiert, statt aktiv und koodiniert auf eine Minimierung hinzuarbeiten. Ein klarer Plan und Weg zum Ausstieg aus dem "Achterbahnkurs" der Inzidenzwerte ist auch auf dieser Ebene nicht zu erkennen. Da hätte man besser zur erfolgversprechenden „No-Covid“-Strategie mit ihrem „Zonenkonzept“ greifen sollen.

Von einer verantwortbaren politischen Ethik her gesehen, ist das Weichen vor einer dem Ziel der Infektionsminimierung entgegenlaufenden „Stimmung“ in der Bevölkerung bedenklich. Es wäre aber auch noch zu fragen, worauf diese diffuse Stimmung mit ihren unterschiedlichen Aspekten hindeutet – vielleicht weniger auf die Unzufriedenheit über Restriktionen, sondern mehr auf die Defizite des Krisenmanagements der Regierungen und Behörden. Und ob eine Mehrheit der Bevölkerung voreilige Lockerungen begrüßt, ist ebenfalls die Frage. Die Vernünftigen und besonders Gefährdeten sicher nicht! Sie gehören allerdings nicht zu denjenigen, die sich am lautesten äußern.

Wie es jetzt aussieht, besteht ein großes Risiko, ja fast schon die Gewißheit, dass die Lage wieder einmal außer Kontrolle gerät – mit vielen weiteren Opfern - und die „Notbremse“ nach kurzer Zeit der Lockerungen erneut gezogen werden muss.

Wenn die Viren menschliche Gefühle hätten, würden sie sich freuen. So erhalten sie die Chance, das Terrain, das sie in anderen Teilen der Welt durch menschliche Intelligenz, Kreativität, Entschlossenheit und Verhalten verloren haben, in Deutschland und Europa wieder wettzumachen. Es wäre gut, wenn wir mehr auf die Länder blickten, die das Virus erfolgreich eingedämmt haben und prüften, was wir von ihnen übernehmen könnten.

Die Pandemie erfordert weltweite Zusammenarbeit

Wir müssen auch auf die Länder blicken, die durch desperate wirtschaftlich-soziale Verhältnis im Kampf gegen Covid-19 behindert sind. In afrikanischen, südamerikanischen und anderen Ländern verstärkt die Pandemie die ohnehin schon bestehenden Mangelsituationen und ihre Folgen: ungerechte Verhältnisse, Armut, Hunger, ungenügende medizinische Versorgung, Gewalt … Diese Länder zu unterstützen ist nicht nur eine Angelegenheit der ebenfalls grundgesetzlich vorgegebenen politischen Ethik (GG, Art. 1.1,2) sondern auch der eigenen Sicherheit. Eine Möglichkeit wäre die Unterstützung bei der Impfstoffversorung durch Lizenzfreigabe zur Herstellung von Impfstoffen an geeignete Nicht-Ursprungsfirmen, die dann Impfstoffe subventioniert und preiswert für diese Länder herstellen. (Es sind für die post-kolonialen Länder aber vielerlei gesundheitspolitische und andere politische Maßnahmen nötig, auf die hier nicht eingegangen werden kann.)  Sollten wir durch unsere Mittel bei der Eindämmung des Virus erfolgreich sein, kann es von ungeschützten Ländern wieder zu uns zurückkommen, möglicherweise in Form neuer Mutanten. Das Auftreten der in ihren Auswirkungen als „brutal“ bezeichneten Sars-Cov-2-Variante P.1 in Brasilien zeigt diese Gefahr deutlich.  Der Aufruf der „Allianz für Multilateralismus“ für eine „starke weltweite Zusammenarbeit und Solidarität, um Covid-19 zu bekämpfen“ (16.04.20) hat nach wie vor Aktualität. Die Feststellungen und Forderungen der „Allianz“ drohen in den Bemühungen um die nationale Gesundheitsvorsorge verloren zu gehen. Lernen wir vom Virus: es kennt keine Grenzen, kooperiert Länder übergreifend, seine Strategie ist pandemisch, weltweit. Sollten wir zu weniger fähig sein als das Virus? Vergessen wir nicht: Der Kampf ist nicht entschieden. Wir wissen nicht, welche unliebsame Überraschungen das Virusgeschehen uns noch bereiten wird. Das sollten sich Bevölkerung und Politik vor Augen halten. Wenn wir die Fähigkeiten und Ressourcen aktivieren, die uns zur Verfügung  stehen, als Menschheit und als Einzelne, bei uns und weltweit,  dann haben wir gute Chancen. Wenn …

 

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Nähere Ausführungen zu einzelnen Themen dieses Artikel in einem Blogpost des Verfassers: Corona - das Virus diskutiert nicht. Eine dokumentarische und persönliche Chronik des Coronageschehens

Die Covid-19-Situation im australischen Bundesstaat Queensland am 15.03.2021 (5,2 Mio Einwohner, Hauptstadt Brisbane)

In den letzten 24 Stunden: 0 neue lokale Fälle 

Reiserückkehrer (in Quarantäne): 6 Fälle 

Derzeitige aktive oder unter Beobachtung stehende Fälle: 36

Krankheitsfälle seit Beginn der Pandemie: 1 386

Todesfälle seit Beginn der Pandemie: 6

Die Zahlen unterscheiden sich nicht sehr von denen anderer australischer Bundesstaaten.

(Quelle: Australian Government / Department of Health)

So sieht es am Abend des  12.03.2021 in Gold Coast (Queensland) aus

Ich erhalte ein Video aus Gold Coast. Bei uns herrscht schlechtes und kaltes Wetter, dort ist es Sommer, blauer Himmel mit rötlichen Wolken am Horizontende, die Sonne geht gerade über dem Meer unter. An der sommerlich-knappen Kleidung der am und auf dem breiten Sandstrand spazierenden Menschen sieht man, dass es warm sein muss. Im Wasser Surfer. Auf der von Pinien und blühenden Büschen umstandenen Strandpromenade flanieren Reihen von Menschen, vor Pubs stehen chic aufgemachte  junge Frauen und Männer gestikulierend, lachend, sich unterhaltend, Social Distancing scheint sie wenig zu kümmern. In Außenanlagen von Gaststätten sitzen Gruppen um Tische, heben Gläser und bedienen sich von Tellern. Ein Straßenmusikant hat seine Verstärker aufgebaut, spielt Gitarre und singt. Ich sehe keine Masken auf den Gesichtern.

Ein Traum, wenn man sich unsere Verhältnisse hier vor Augen hält: Fremdenverkehrsort, aber leere Straßen, Gaststätten geschlossen, die wenigen vermummten Menschen weichen voreinander aus. 

Glückliches Australien!

Angeblich ist der australische Weg bei uns nicht machbar. Wirklich?

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