Impfung schwächt das Immunsystem? - Stimmt das? Ein Überblick über das derzeitige Corona-Geschehen

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So dockt ein Sars-CoV-2-Virus mittels des Spike-Proteins am Rezeptor einer Zelle an. Corona-Impfungen benutzen die Erbinformationen des Spike-Proteins, um eine Abwehreraktion des Immunsystems zu aktivieren. (Bildquelle: Planet Wissen /SWR)

Auch Geimpfte stecken sich an - das lässt nach dem Nutzen der Impfung fragen

Derzeit infizieren sich in den EU-Länden sehr viele Menschen mit den leicht übertragbaren Omikron-Varianten und durchlaufen eine Erkrankung; augenscheinlich meist in kurzfristig oft beschwerlicher, aber bald vorübergehender Form. Entsprechend ihrem hohen Anteil in der Bevölkerung, sind die meisten der Betroffenen gegen Corona geimpft, vielfach "geboostert". 

Andererseits bekunden Ungeimpfte in den Social Media, dass sie sich vor einer Ansteckung bewahren konnten und führen das auf ihre natürlichen Widerstandskraft zurück. Andere haben sich zwar angesteckt, vermelden aber einen leichten Verlauf oder Symptomlosigkeit. 

So kann der Eindruck entstehen, dass die Impfungen nutzlos seien, ja sogar die natürliche Widerstandskraft schwächen könnten. Anhand der Wirkweise von Impfungen und unter Bezugnahme auf fachwissenshaftliche Untersuchungen soll hier geprüft werden, ob dieser subjektive und auf begrenzte Erfahrungen zurückgehende Eindruck zutrifft.

Eine weniger detaillierte Fassung dieses Artikels wurde im Online-Magazin "Telepolis" veröffentlicht. In der hier vorliegenden Überarbeitung wurden Kommentare zu dem Telepolis-Artikel berücksichtigt und fortlaufend weitere Fachveröffentlichungen eingearbeitet.

Impfungen bereiten das Immunsystem auf einen Erreger vor

Die Ansicht, dass das Immunsystem durch Impfungen geschwächt würde, verkennt das Prinzip von Impfungen. Impfungen stärken das Immunsystem spezifisch, indem sie es auf einen Erreger vorbereiten. Die Impfung bietet dem Körper eine Komponente des Erregers, die Abwehrmechnismen gegen den gesamten Erreger in Gang setzen, unter anderem Antikörperbildung gegen den Erreger.  Bei einer späteren Infektion erinnert sich das Immunsystem – mit Hilfe der „Gedächtniszellen“ - und reagiert sehr schnell mit einer Vielzahl von Abwehrmechanismen, die ohne die vorherige „Impfinfektion“ sehr viel langsamer und mühsamer einträten.

Dies ist im Falle des Sars-CoV-2-Virus wichtig, weil das Virus Eigenschaften hat, die es befähigen,  das natürliche und erworbene Abwehrssystem zu unterlaufen oder zu stören (letzteres z. B. durch eine Immunüberreaktion).

Wahrscheinlich ist das angeborene Immunsystem der meisten Menschen auf das evolutionär neue Virus nicht vorbereitet. Sowohl das "naive" als auch das „adaptive“ Immunsystem müssen erst „lernen“ dieses Virus zu erkennen und erfolgreich zu bekämpfen. Vor allem das Immunsystem von Älteren kommt mit dem "neuen" Erreger nicht gut zurecht. Ein Weg, die fehlende, schwache oder zu langsame Abwehrreaktion zu aktivieren, sind die Corona-Impfungen. Sie rufen die Bildung von Sars-CoV- spezifischen T-Zellen hervor und schaffen durch ihre Umwandlung in "Gedächtniszellen" ein „Immungedächtnis“ für das Virus.

Wird der Virenbefall nicht rechtzeitig und wirksam abgewehrt, können sich die Eindringlinge auf Grund ihrer „Umgehungstricks“ sehr schnell im Körper verbreiten und ihr Zellschädigungswerk beginnen. Die Findigkeit der Sars-CoV-2-Viren Abwehrstrategien zu umgehen, zeigt sich selbst bei der Anwendung antiviraler Mittel. Neue Laborstudien zeigen, dass das Coronavirus auf eine Weise mutieren kann, die es weniger anfällig für das an sich erfolgreiche Pfizer-Medikament "Paxlovid" macht.

Es ist nicht einzusehen, dass die spezifische Abwehrstärkung gegen einen Erreger durch eine Impfung das sonstige, angeborene und erworbene Immunsystem schwächt. Das könnte allenfalls kurzfristig der Fall sein, solanges das Abwehrsystem mit der Impfreaktion beschäftigt ist. Ansonsten wird das übrige Immunsystem gar nicht tangiert und reagiert wie bisher auf andere Herausforderungen.  
 
Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass bei Corona-Impfungen - wie bei der Dengue-Fieber-Impfung - sogenannte „infektionsverstärkende Antikörper“ (ADE) entstehen könnten. Sie erleichtern das Eindringen von Viren in die Wirtszellen. Es sind aber – entgegen einigen Meldungen – bisher keine Hinweise auf ADE nach Corona-Impfungen beobachtet worden. (PEI)  
 
Von Ausnahmen abgesehen (entgleiste Immunreaktionen) wird das Immunsystem bei einem erfolgreichen Eindringen des kompletten Virus in die Wirtszellen mehr beansprucht als bei einer Impfung. Bei dieser wird nur ein Teil des Virus, nämlich das Spike-Protein, mit dem es sich an die Wirtszellen anschließt, verabreicht (näheres weiter unten). Bei einer Covid-19-Erkrankung ist das Immunsystem mit der Abwehr der Sars-CoV-2-Viren so beschäftigt, dass andere Erreger - meist bakterieller Art - vordringen und Beschwerden hervorrufen können, z. B. Entzündungen. Oft muss dann ein Antibiotikum gegeben werden.

Nach "Impfdurchbrüchen" wurden bei Geimpften manchmal geringere Antikörperwerte als bei ungeimpft Infizierten festgestellt. Das bedeutet nicht, dass das Immunsystem von Geimpften weniger gut auf das Virus reagiert. Dies geht vielmehr auf durch die Impfung bewirkte frühzeitige Abwehr zurück, die mildere Krankheitsverläufe ermöglichte. So mussten weniger Antikörper als bei Ungeimpften gebildet werden. In diesen und anderen Fällen deuten die angeblichen, durch Impfungen hervorgerufenen „Schwächungen“ des Immunsystems eher auf die Effizienz der Impfungen als auf eine Beeinträchtingung der Immunabwehr. 

Unter Umständen - vor allem bei immungeschwächten älteren Menschen - ist die Immunantwort auf die Impfungen schwach, sodass trotz Impfungen schwere Krankheitsverläufe vorkommen. Das ist aber nicht die Regel und kann nicht als Argument gegen die Impfungen überhaupt gelten.

Impfungen schützen genau genommen auch nicht vor Infektionen - dem Befall von Krankheitserregern - aber sie versetzen im Normalfall das Immunsystem in die Lage, den Erreger rasch und wirkungsvoll zu bekämpfen. Sie verhindern, dass die Infektion sich ausbreitet. Das angeborene und erworbene Immunsystem verändert, „reprogrammiert“ sich insofern, als es sich jetzt auch gegen den durch die Impfung angezielten neuen Erreger wappnet. Ein intaktes Immunsystem hält nach wie vor alle möglichen Abwehrstoffe parat. 

Wenn man so will: Impfungen „trainieren“ das Immunsystem gegen bestimmte virale oder bakterielle Herausforderungen, ein Vorgang, der auch sonst ständig stattfindet, aber nicht immer gegen alle Infektionen hilft. 

Nicht immer ist Verlass auf das natürliche Immunsystem

Die Geschichte der Seuchen und Pandemien zeigt deutlich, dass kein Verlass darauf ist, dass das menschliche Immunsystem mit übermächtigen Erregern wie z.B. dem Pocken-, Ebola- oder Hanta-Virus fertig wird, wenn man es nur mit „natürlichen“ Mitteln stärken und einfach gewähren lässt. Schon immer haben sich Maßnahmen wie frühes Eingreifen mit Isolierungen, Abstandswahrung, Hygienekontrollen, Desinfektionen, Maskenschutz, in der Neuzeit Impfungen, neuerdings Testungen, bewährt. Dass Maßnahmen dieser Art lebensrettend wirken, zeigt der Vergleich zwischen den immensen und unnötigen Todeszahlen in den USA während der Trump-Regierung mit ihrer Verharmlosungspolitik und den ganz geringen in Australien mit seiner rigiden Zero-Covid Politik. (Wobei sich zeigte, dass die durch eine überzogene Abschirmungspolitik herbeigeführte übereilte Öffnung sowie ein zu spätes, alleiniges Setzen auf die Impfwirkung den Einzug der Virusvarianten auf den australischen Kontinent nicht verhindern konnte.)

Exkurs: "A lockdown a day keeps the doctor away"

Zu den Wirkungen "nicht-pharmazeutischer" Maßnahmen in der Corona-Pandemie existieren eine Vielzahl von Untersuchungen mit z. T. unterschiedlichen Ergebnissen. Es besteht aber mehrheitliche Übereinstimmung unter den Untersuchern, dass "Reduktion enger physischer Kontakte" wie Home-Office, konsequente Abstandswahrung bei Menschenansammlungen, sorgfältige Hygieneeinhaltungen, regelmäßiges korrektes Tragen von geeignetem Mund-Nasenschutz in übertragungsgefährdeten Situationen, Infektionen und Virus-Verbreitung deutlich reduzieren. Auf das Gutachten des Corona-Sachverständigenausschusses der Bundesregierung zur Evaluierung der Maßnahmen der Pandemiepolitik berufe ich mich hier nicht - wegen seiner Umstrittenheit - obwohl der Bericht manches bestätigt. Ich greife zwei andere Beispiele heraus: 

Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung (Befragung/Gesundheitsdaten/ Biomaterialproben) in der Region Rheinhessen (2021) durch Mitarbeiter der Universitätsmedizin Mainz ("Gutenberg-Covid-19-Studie"). Diese Untersuchung bestätigt, dass AHA-Regeln, Mund-Nasen-Schutz, Home-Office (und Testen) als "Pandemie-Bremse" wirken.

In einer Studie des IfW Kiel (Institut für Weltwirtschaft) - mit Daten von 182 Ländern aus dem Jahr 2020, darunter auch Deutschland - wurde mittels statistischer Verfahren die Effektivität von 14 "nicht-pharmazeutischen" Interventionen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gemessen. Die Ergebnisse werden in der folgenden Graphik dargestellt:

(Grad der Wirksamkeit von oben nach unten - Die Reproduktionszahl R beschreibt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt.)

Anzumerken ist bei der Graphik, dass der Wirksamkeitsgrad der Maßnahmen in den verschiedenen Ländern je nach Umständen unterschiedlich sein konnte. Bei allen Maßnahmen galt: Je schärfer die Anwendung, desto höher der Erfolg. 

Die unnötigerweise zu einem "Schibboleth" (AT, Richter,12,5.6) gewordene Frage, ob korrektes Tragen von geeigneten Gesichts-Nasen-Bedeckungen ("Masken" - am wirkungsvollsten FFP2) in Innenräumen die Infektionsgefahr signifikant verringert, wird so überwiegend von Untersuchern bejaht, dass man von einem Konsens sprechen kann. Die Ergebnisse älterer Untersuchungen werden durch neuere Labor- und Realfeld-Studien unterstützt.

 

Der Impfschutz lässt nach - ist das ein Zeichen der Nutzlosigkeit?

Bei einigen Impfungen lässt der Impfschutz durch Verringerung der Antikörper mit der Zeit nach, sodass Auffrischungsimpfungen nötig sind. Drei mRNA-Impfungen gegen die Sars-CoV-2-Viren reduzieren nach den vorliegenden Daten und den meisten Untersuchungen schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle. (Helmhotz-Artikel 1) Das trifft auch noch bei den gegenwärtig vorherrschenden Omikron-Virusvarianten zu. Dass der Schutz derzeit nachlässt und begrenzt ist, hängt damit zusammen, dass die Impfungen für die Ur-(Wuhan-)Typen entwickelt wurden und die Viren sich durch genetische Mutationen in der Wirkungsweise verändert und angepasst haben. Das Virus "kennt" nur ein Programm: Überleben und sich fortpflanzen. Evolutionär setzt sich die Variante durch, die am erfolgreichsten beim Befall von Wirtskörpern ist. Das bedeutet, dass sich Varianten entwickeln, die weniger durch die Erstimpfungen behindert werden.

Dementsprechend kommt eine amerikanische Untersuchung zu dem Ergebnis:

"...unterstützt unsere Studie die Behauptung, dass die aktuellen COVID-19-Impfstoffe hochwirksam gegen die Entwicklung schwerer Krankheiten sind ... aber nur begrenzten Schutz gegen Durchbruchsinfektionen bieten, insbesondere durch die Omikron-Unterline. [Ergänzend fordert der Autor eine noch nicht entwickelte Auffrischungsimpfung, die auf die Atemwegs-Schleimhaut wirkt.]

Andere Untersuchungen bestätigen diesen Befund: 

"Unsere Daten deuten darauf hin, dass Omikron-Unterlinien zwar neutralisierenden ... Antikörperreaktionen entgehen, die durch primäre Impfstoffserien ausgelöst werden, Impfstoff-Booster jedoch einen ausreichenden Schutz gegen eine durch Omikron induzierte schwere Erkrankung bieten können."

Das RKI nennt unter Berufung auf Studien Prozent- und Zeitdauerzahlen der Impfwirksamkeit gegen schwere Verläufe. 

"Studien zum Impfschutz wiesen dabei auf eine Impfeffektivität gegen hospitalisierungspflichtige Erkrankung von 64% ... nach zweifacher Impfung hin, die innerhalb von 6 Monaten auf 44% ... abnimmt, sich durch eine dritte Impfdosis auf 92% ... steigern lässt und auch 10+ Wochen nach dritter Impfung noch 83% ... beträgt."

Bei den Angaben handelt es sich um Zahlen zur "absoluten", d. h. generellen Wirkung aller zugelassenen Impfstoffe. Hierzu ist anzumerken, dass die Effizienz der Impfungen individuell und auf Grund verschiedener Umstände unterschiedlich sein kann, sodass generelle Durchnittszahlen nicht allein maßgeblich sind. Für ein genaueres Bild wichtig wären Angaben über die zugrundeliegenden Virus-Varianten, die Wirkung der einzelnen Impfstoffe, Zusammenhänge zwischen Impfeffizienz und Alter und dem der Erkrankung vohergehenden Gesundheitszustand. 

Umfassendere Angaben macht ein sich auf internationale Studien stützender WHO-Bericht. Auch er bestätigt, dass die Wirkung der bisherigen Impfungen bei den Omikron-Varianten in allen Wirksamkeitsbereichen (Infektion, symptomatische und schwere Erkrankung) zwar nachlässt, aber die bei uns üblichen Impfungen mit Boosterung mindestens 6 Monate lang einen guten Schutz gegen schwere Erkrankungen (severe desease) bieten. (Untersuchungen der Impfwirksamkeit über 6 Monate hinaus fehlen.)

Eine vergleichende Untersuchung von Studien und Berichten über die Effizienz der in der EU zugelassenen Impfstoffe fasst die Wirkung der Impfstoffe unter der Omikron-Variante folgendermaßen zusammen:

Bei der Omicron-Variante ist die Wirksamkeit von in der EU zugelassenen COVID-19-Impfstoffen zur Vorbeugung einer SARS-CoV-2-Infektion oder einer leichten Erkrankung gering und nach der Grundimmunisierung nur von kurzer Dauer, kann aber durch eine Auffrischungsimpfung verbessert werden. VE [vaccine effectiveness] gegen schweres COVID-19 bleibt hoch und hält lange an, insbesondere nach Erhalt der Auffrischimpfung.

Ergänzend sei eine Feststellung zitiert, die auf Daten beruht, die dem RKI von in Deutschland hospitalisierten Covid-19-Fällen übermittelt wurden:

Im Zeitraum MW [Meldewoche] 16-19/2022 war für ungeimpfte Personen das Risiko, aufgrund von COVID-19 in einem Krankenhaus behandelt zu werden 6,7-fach (12- bis 17-Jährige), 3,7-fach (18- bis 59-Jährige) bzw. 9,0-fach (ab 60-Jährige) erhöht im Vergleich zu Personen mit einer Auffrischimpfung.

Eine fachwissenschaftlich vertretbare Antwort auf die  Frage nach der positiven Wirksamkeit der Corona-Impfungen gegen oder bei Covid-19-Erkrankungen sollte also differenziert ausfallen. Ein Rundumschlag gegen die Impfungen nach dem Motto "Impfwirksamkeit? Gibt es nicht. Alles Fake. Höchstens Schäden" lässt sich nicht seriös begründen.

Begrenzte Wirkung der alten Impfstoffe - also erst recht nicht impfen lassen oder noch warten?

Die Bewertung der Daten zur Wirksamkeit der bisherigen Corona-Impfstoffe hängt stark von der subjektiven Einstellung zur Impfung ab. Das ist wie mit dem bekannten halbvollen Glas Wasser. 

Auch durch nicht immer differenzierte mediale Meldungen über Forschungen zur Wirksamkeit der bisherigen Impfungen ist in der Öffentlichkeit eine große Impfskepsis entstanden. 

Man kann verstehen, dass Menschen, die sowieso schon von der Unwirksamkeit oder Nachteiligkeit der Impfung überzeugt sind, sich durch die begrenzte Wirkung der bisherigen Impfstoffe darin bestärkt sehen, weiterhin Abstand von der Impfung zu nehmen. Mit dem begründbaren Hinweis, dass die vollständige Impfung immer noch einen guten, wenn auch nur zeitweiligen, Schutz gegen schwere Erkrankungen bietet, wird man sie kaum überzeugen können. Auch der Hinweis auf mögliche, eventuell gravierende Folgen selbst bei asymtomatischen oder leichten symptomatischen Infektionen (siehe weiter unten) wird meist übergangen oder heruntergespielt.

Andere Ungeimpfte, die nicht grundsätzlich ablehnend sind, fragen sich, ob es sinnvoll ist, sich noch mit den bisherigen Impfstoffen impfen zu lassen. Eventuell wollen sie auf angepasste Vakzine warten. Die in Deutschland wohl im Herbst kommenden angepassten Impfstoffe sind aber als Ergänzung zur bisherigen kompletten Impfreihenfolge gedacht. 

Ob jetzt Impfungen für sie noch sinnvoll seien, fragen sich auch Menschen, die sich schon in der frühen Phase der Pandemie infiziert haben oder später, als Alpha, Delta, BA.1 oder BA.2 vorherrschten. Manche meinen nun nach überstandener Krankheit genug Abwehrstoffe gebildet zu haben und vor einer Reinfektion geschützt zu sein. Deshalb halten sie die Impfungen nicht für nötig. Die Veränderungen der Sars-CoV-2-Viren sind der Grund, weshalb diese Annahme nur eingeschränkt zutrifft. Die Abwehrfähigkeit nach einer Infektion mit frühen Virustypen  ist zwar vorhanden, aber  "stark reduziert." Infektionen mit BA.1 oder BA.2 schützen "kaum" vor einer Infektion mit BA.4 und BA.5. Das Immunsystem ist für  die neuen Varianten nicht genügend "trainiert". Impfungen, die die Abwehr des Immunsystems "auffrischen", wären angebracht und würden die Abwehrfähigkeit "verbreitern". Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt eine "Kombination von natürlicher Infektion und Impfung".

Eine mögliche Antwort auf die Frage sich jetzt oder später impfen zu lassen, könnte sein, dass man die Entscheidung vom Grad der eigenen Gefährdung und der anderer (in Hinsicht auf Ansteckungsgefahr Gesundheitszustand und Widerstandskraft)  abhängig macht. Dabei ist aber die ganze Impfprozedur nur aufgeschoben. So entsteht ein eventuell noch längerer Risikozeitraum als bei schnellem Zugriff. 

Eine ganz neue Virus-Variante könnte entstehen

Je mehr sich Viren verbreiten können, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie mutieren. Das kann, aber muss nicht günstig für den Wirt ausgehen. Die Gefahr in der jetzigen Situation ist, dass sich durch die immer noch beachtliche Zahl von Ungeimpften oder nicht vollständig Geimpften, auf Grund mangelnder Vorsichtmaßnahmen und durch den Anstieg der Infektionen „Fluchtmutanten“ entwickeln, die den Impfschutz unterlaufen und auch häufiger zu schweren Verläufen führen könnten als die jetzt vorherrschenden Varianten. Insbesondere bei chronisch Covid-19-Kranken befürchtet man die Bildung neuer Mutanten. Bei Patienten mit schwachem Immunsystem kann Covid-19 chronisch werden und das Virus hat dann lange Gelegenheit zu mutieren, vor allem wenn es unter "Druck" von antiviralen Medikamenten steht. [Fallbeispiel in Nature 592, 277–282 (2021)] 

"Eine schnelle Folge von Untervarianten [von Omikron] ist [derzeit] die Normalität, aber eine völlig neue Variante könnte immer noch entstehen", fasst ein Artikel in Science die Situation zusammen.

Klinische Beobachtungen und Meldedaten deuten darauf hin, dass schon die derzeit vorherrschende Omikron-Untervariante BA.5 virulenter ist, mehr schwere Krankheitsverläufe hervorufen kann und dem Immunsystem besser entkommt als die früheren Subvarianten BA.1 und BA.2.  BA.2.75, ein in in Japan aufgetretener "Abkömmling" von BA.2, scheint noch ansteckender zu sein als BA.5. 

Zwar sind Krankheitsverläufe bei Omega-Infektionen meist "milder" als bei Delta, aber das verbreitete Narrativ von ihrer Harmlosigkeit wird nicht durch Meldezahlen bestätigt. Noch nie war die Zahl der intensiv-medizinisch behandelten Menschen und derjenigen, die an (oder mit) Covid-19 starben, in Deutschland so hoch wie im Juli 2022.  (Juli 2020: 136 / Juli 2022: 2839 Todesfälle - nach RKI-Angaben.)

In der fünften Welle kam es trotz mehrheitlich vergleichsweise milder Erkrankungsverläufe aufgrund der hohen Infektionszahlen wieder zu einem Anstieg der Todesfälle

wird im "Wöchentlichen Lagebericht des RKI" vom 18/08/22 festgestellt.

Der Hinweis, dass im Verhältnis zu den Infektionszahlen die Sterbefälle wesentlich geringer seien als vor dem Auftreten von BA.5, vermag angesichts der hohen absoluten Zahlen und den Schicksalen, die sich dahinter verbergen, nicht zu beruhigen.

So wird die Gesamtsituaton beurteilt:  

Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung durch COVID-19 für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als hoch ein.

Auch wenn BA.5-Infektionen häufig symptomlos bleiben und die Betroffenen die Infektion gar nicht bemerken, können sie das Virus an andere weitergeben, die eventuell symptomatisch oder schwer erkranken. Gänzlich in dieser Situation auf Präventivmaßnahmen zu verzichten, hieße der Virenverbreitung Vorschub leisten.

Auch klinisch als "mild" zu bezeichnende Erkrankungen sind in vielen Fällen nicht gerade angenehm - um es einmal zurückhaltend auszudrücken -  wie ich aus eigener Erfahrung und der anderer weiß, ganz abgesehen davon, dass sie längerfristige Folgen haben können.

Das Virus gewähren lassen? 

Corona-Impfskeptiker führen an, dass Impfungen die Bildung von Fluchtmutanten geradezu "züchten" würden. Ohne die Impfungen liefen die Mutanten ins Leere. Ein Verzicht auf Impfungen aus diesem Grund trüge dazu bei, das Virus laufen zu lassen; mögliche Schutzwirkungen würden außer Acht gelassen, menschliche Opfer und ökonomisch-gesellschaftliche Schäden müssten in Kauf genommen werden. Ein "Selektionsdruck" auf die Viren besteht auch ohne Impfungen. Schon vor der Einführung der Corona-Impfungen mutierte das Virus und nicht unbedingt zum Besseren für Infizierte.  Alpha und Delta waren zunehmend ansteckender als das Ursprungsvirus, verbreiteten sich schneller, führten zu mehr Hospitalisierungen und höherer Fallsterblichkeit. (RKI) Schließlich reduzierte Todesfälle bei Delta hingen wahrscheinlich mit der einsetzenden Impfkampagne zusammen.

In der Interaktion mit diesem Virus ist "laissez-faire" nicht angebracht. Die Erwartung, "Corona" sei am Ende, wenn man das Virus "durchrauschen" ließe bis in einer Gesellschaft "Herdenimmunität" herrsche, ist illusorisch. Der Sars-CoV-2-Stamm wird auf Grund seines genetischen Programms und seiner Veränderlichkeit immer wieder Wege finden die von Menschen aufgebaute Immunität zu unterlaufen.

Eine einigermaßen erträgliche Koexistenz mit dem Virus wird wohl nur zu erreichen sein, wenn man ihm die Gelegenheiten zur Verbreitung möglichst weitgehend abschneidet. 

Solange das Virus grassiert und es massenweise Infektionen mit unterschiedlichen Folgen gibt, Reinfektionen und Impfdurchbrüche vorkommen, ist es leichtsinnig, sich auf Genesenenimmunität, Impfschutz oder "natürliche" Widerstandskraft zu verlassen und auf zusätzliche individuelle und gesellschaftliche Schutzmaßnahmen zu verzichten. Eine Pandemie ist nicht dadurch zu Ende, dass ein Teil der Bevölkerung keine Lust mehr hat einschränkende Massnahmen hinzunehmen und Politiker dem nachgeben oder sich als Freiheitsbefürworter profilieren wollen.

Die derzeitige anscheinende Beruhigung an der "Corona-Front" könnte trügerisch sein. Die Sorglosigkeit, mit der viele sich in den wiedererlangten Freiräumen bewegen, auch.

Wie Corona-Impfungen wirken

Mit den jetzigen Impfstoffen - über die Booster-Impfung hinaus - immer wieder neu zu impfen, scheint nicht der geeignete Weg in die Zukunft zu sein. Das wird von Fachleuten nur in bestimmten Fällen, bei älteren Menschen, stark Gefährdeten  oder Exponierten, empfohlen. Da sollte jede Impfung abgewogen werden. Abhilfe kann hier ein „polyvalenter“ Impfstoff (pancoronavirus vaccine) bringen, der - ähnlich bei den Grippeimpfungen - Schutz gegen viele und auch neue Varianten bietet. An ihm wird gearbeitet. Aber auch der müsste ständig weiterentwickelt werden. 

Jede Impfung kann Nebenwirkungen haben. Im Falle der „klassischen“ Massenimpfungen (Pocken, Masern, Kinderlähmung u.a.)  - gegen Krankheiten, die ohne Impfung meist schwer oder tödlich verlaufen – sind die Fälle von schweren Nebenwirkungen im Einzelfall tragisch, aber angesichts millionenfacher Lebensrettungen vertretbar. So wurden die Pocken durch die weltweiten Impfaktionen ausgerottet und existieren derzeit nur noch in Labors. Auch Polio und Masern wurden durch Impfaktionen  weltweit stark zurückgedrängt.

Gegenüber den Impfstoffen dieser Art wird angeführt, dass die gegen Corona eingesetzten Impfungen neu, zu schnell entwickelt wurden und - was Nebenwirkungen betrifft – relativ unerforscht seien. Die daraus resultierenden Befürchtungen sind weit verbreitet. Dagegen lässt sich einwenden, dass die mRNA-Impf-Technik seit ca. 30 Jahren bekannt ist und seit 10 Jahren in der Krebsforschung angewendet wird (mRNA= messenger ribonucleic acid / Boten-Ribonukleinsäure). Für die therapeutische Krebsimpfung "liegen erste Ergebnisse vor, die darauf hindeuten, dass die Impfung gegen Krebs wirksam sein kann." (Nils Halama, Onkologe/Tumorimmunologe) Es wird dasselbe Verfahren wie bei der mRNA-Impfung gegen Sars-CoV-2-Viren angewendet, aber die Entwicklung von Impfstoffen ist bei Tumoren komplizierter.

Die Technik besteht bei der Corona-mRNA-Impfung (Moderna, Biontech) darin, nur einen - künstlich hergestellten - Bestandteil des Sars-CoV-2-Virus in den Körper einzuschleusen, nämlich eine in die mRNA verpackte Information, den Bauplan des mRNA-Spike-Proteins, mit dem das Virus an Wirtszellen andockt. Die Körperzellen nehmen die Information auf und produzieren das Spike-Protein. Das Immunsystem erkennt den Fremdkörper und entwickelt Abwehrstoffe und -zellen. So wird die Abwehr gegen das Spike-Protein und damit gegen das Eindringen des Virus in die Zelle aktiviert. Eigentlich produziert der Körper den Impfstoff selbst.

Das ist ein schonendes Impfverfahren, das den Körper mit möglichst wenig „schwer verdaulichen“ Stoffen  belastet. Die mRNA und die Zusatzstoffe (Fette) werden im Körper in der Regel schnell abgebaut. Sie verändern die Erbsubstanz der Zellen, die DNA, auch nicht, da sie nicht mit ihr interagieren. Nach dem Abbau bleibt die Gedächtnisleistung des Immunsystems bestehen, zumindest eine Zeit lang. Hingegen können sich RNA-Reste von Sars-CoV-2-Viren, die sich mit Wirtszellen vereinigt haben, in diesen verbleiben. Das erschwert eine vollständige Gesundung und erleichtert eine Reinfektion. Bei der Impfung wird, wie schon gesagt, nur ein künstlicher und abbaubarer RNA-Bestandteil des Virus an Zellen herangetragen, nicht in sie induziert.

Die Vektorimpfung (AstraZeneka, Johnson & Johnson) hat ein ähnliches Wirkprinzip, nur dass hier der Spike-Protein-Bauplan nicht durch Fettstoffe, sondern durch ein abbaubares Vektorvirus eingeschleust wird.

Durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurde die bisher unterfinanzierte mRNA-Technik und Forschung aktiviert. Nachdem man den Bauplan des Virus und seine Wirkweise entschlüsselt hatte, konnten auf Grund des bekannten Verfahrens relativ schnell Impfstoffe entwickelt werden.  

Die bisherigen Corona-Impfstoffe haben von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) eine sogenannte bedingte Zulassung bekommen, die an die Auflage geknüpft ist, weitere Daten zu ermitteln und vorzulegen. U. a. muss der Nutzen die Risiken deutlich überwiegen. Da die Entwicklungsfirmen fortlaufend Daten nachgeliefert haben, die bestätigen, dass die Nutzen-Risiko-Bilanz positiv ist, wurden die Zulassungen verlängert. (So zeigte sich bei der Erprobung, dass die Impfstoffe weiterhin die Bildung von Antikörpern anregen, die auch bei Omikron-Varianten wirksam sind.) Auch eine bedingte Zulassung setzt standardisierte Prüfungsverfahren voraus und ist rechtsgültig. Dass die Firmen darauf bedacht sind, Angaben zu ihren Gunsten zu liefern, ist klar. Deshalb gibt es auch die Überprüfungen durch dafür beauftragte, mit qualifizierten Fachleuten besetzte Einrichtugen und den fachwissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Diskurs.

Von der Wirkweise der Impfungen her spricht nichts gegen ihre mehrfache Anwendung, in gebührenden Abständen, versteht sich, um den Körper nicht zu überlasten. Es wird eine spezifische Abwehr gegen ein spezifisches Virus aufgebaut. Wenn die Abwehrleistung des Immunsystems gegen diese spezifische Herausforderung nach einiger Zeit nachlässt - vielleicht weil diese Leistung nicht immer wieder angefordert wurde - kann man sie durch eine neue Impfung wieder anfachen. Mehrfache Impfungen verstärken den "Trainingseffekt" beim Immunsystem. Das gilt allerdings nur, solange die Viren einigermaßen gleichgeartet sind. Ändert sich das, muss der Impfstoff angepasst werden. Das ist nun einmal bei einem relativ instabilen RNA-Virus wie dem Sars-CoV-2-Virus so. Auch die Grippeimpfung muss ja immer wieder an veränderte Viren angepasst werden, aber das wird ohne Aufregung hingenommen.

Die demnächst kommenden angepassten Impfstoffe wurden  auf BA.1 angelegt und sollen auch die Abwehr gegen weitere Omikron-Varianten stärken. Die Impfung mit ihnen ist eine Booster-Impfung, die auf den  bisherigen Impfungen aufbaut. Auf BA.4/5 basierende Impfstoffe sind in der Entwicklung, werden aber in der EU wohl noch auf sich warten lassen. Der „Wettlauf“ zwischen Virusmutationen und Impfstoffentwicklung könnte nur durch die Entwicklung der schon erwähnten „Pancorona-Vaccine“ entschieden werden – zumindest zeitweilig.  

Es zeigt sich jetzt, dass die Impfungen auf Grund der sich schnell verändernden Virenlage nicht mehr die großen Erwartungen erfüllen, die man anfänglich in sie gesetzt hat. Soweit ich mich erinnere, haben kompetente Fachleute auch nicht behauptet, dass die Impfungen totalen Schutz und andauernde Wirkung bieten würden. Doch wie bei anderen Impfverfahren war ihre Entwicklung ein medizinischer Durchbruch, ohne den der Verlauf der Pandemie noch gravierender gewesen und auch heute noch wäre. 

Forschende des "Londoner Imperial College" haben für das erste Jahr der Impfungen errechnet, dass ohne diese global 31,4 Millionen Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu erwarten gewesen wären. 19,8 Millionen davon seien durch die Impfungen vermieden worden – 12,2 Millionen davon in Ländern mit hohem oder mittlerem Einkommen. Knapp 600.000 Todesfälle hätten verhindert werden können, wenn das Ziel der WHO erreicht worden wäre, bis Ende 2021 40 Prozent der Weltbevölkerung gegen Corona zu impfen.

Im Falle des Sars-CoV-2-Virus hätte eine weltweite, rechtzeitige hohe Impfquote die Bildung und Ausbreitung von Mutanten reduziert und - verbunden mit den notwendigsten, konsequent durchgeführten Präventivmassnahmen - Corona wahrscheinlich endemisch werden lassen. In Ländern, wo es möglich gewesen wäre, hätte auch eine frühzeitige, informativ gut vermittelte Impfpflicht dazu beitragen können.

Was hat es mit Post-Vac-Syndromen und Long Covid auf sich?

Derzeit wird unter Hinweis auf Post-Vac-Syndrome (ein anderer Ausdruck für Langzeitnebenwirkungen) vor Corona-Impfungen gewarnt. Dass bei oder nach diesen Impfungen leichtere oder schwerwiegende Beschwerden auftreten können, ist nicht zu bestreiten. Ziehen sie sich hin, erinnern sie manchmal an Long-Covid-Symptome. Das ist aber ein unsicheres Feld, in dem noch viel untersucht werden muss. Bisher gibt es nicht einmal eine die Symptome einigermaßen erfassende  Definition des Syndroms. Der Nachweis, dass schwerwiegende Beschwerden mit der Impfung zusammenhängen, ist nicht leicht zu erbringen, sodass man vorerst von „Verdachtsfällen“ spricht. Von 2020 bis 2022 liegt die Melderate schwerwiegender Fälle in Deutschland bei 0,2 bis 0,5 je 1000 Impfdosen, je nach Impfstoff (Paul-Ehrlich-Institut). Unter diesen Fällen wurden bis zum 20. Juni 2022 nach Auskunft des PEI in Deutschland bei fast 65 Millionen Geimpften etwa 192 Fälle des chronischen Erschöpfungssyndroms ME/CFS nach einer Impfung gemeldet – und 7 Fälle eines sogenannten Post-Vaccine-Syndroms.  

Das Risiko nach einer Covid-19-Infektion länger anhaltende (mindestens 3 Monate) und "milde", "moderate" oder gravierende Beschwerden - „Long/Post Covid“ - zu bekommen, ist hoch. Es liegt nach einer evidenzbasierten deutschen Studie (11.710 vollständig Befragte) bei 20 bis 30%, auch unter im jüngeren  und mittleren Alter befindlichen Erwachsenen, selbst bei mildem Verlauf der Erkrankung. Andere Untersuchungen schätzen den Prozentsatz noch höher ein. Auf Grund der Neuheit des Phänomens ist noch nicht klar, ob, wann und unter welchen Umständen Long-Covid-Symptome sich abmildern oder wieder verschwinden. Auch ist nicht immer deutlich, ob Beschwerden direkt mit einer Covid-19-Erkrankung zusammenhängen, mit pandemischen Umständen im allgemeinen, einer verlängerten Rekonvaleszenz nach der Beanspruchung durch die Krankheit oder ob die Infektion schon angelegte Gesundheitsprobleme aktiviert hat. Wie dem auch sei: das gehäufte Autreten von breit gefächerten, aber spezifischen Beschwerden nach einer Covid-19-Erkrankung ist eine Realität.

Meist verläuft die Corona-Infektion bei Kindern "mild" (obwohl Hospitalisierungen relativ häufig sind). Trotzdem berichten Kinderärzte und Kliniken zunehmend von körperlichen und psychischen Folgeschäden nach Erkrankungen, wobei diese aber nicht immer allein auf die Erkrankung zurückgeführt werden. Da kleinere Kinder meist gar nicht geimpft sind, ältere und Jugendliche nur zum Teil, sind Präventionsmaßnahmen in Kindergärten und Schulen weiterhin angebracht.

Nach einem Zusammenhang mit Corona-Impfungen wurde in der genannten deutschen Studie nicht gefragt. Verschiedene Untersuchungen belegen , dass mehrfach geimpfte Personen deutlich seltener an Long/Post-Covid-Symptomen leiden als ungeimpft Infizierte (Helmholtz-Artikel 2). Eine Metanalyse (Prüfung einschlägiger Veröffentlichungen) australischer Wissenschaftler kommt allerdings zum Ergebnis, dass noch mehr "robuste vergleichende Beobachtungsstudien" nötig seien, um die Wirksamkeit der Impfungen gegen Long Covid zu erhärten.

Das Corona-Virus mit seinen Folgen habe "Millionen Menschen zum Schatten ihres früheren Selbsts" gemacht - so die Autorin eines Science-Artikels über "Hinweise zu Long Covid". Sie referiert die verbreitetsten Theorien zur Frage, was Long Covid verursachen könnte. Alle beruhen auf klinischen und in Laboruntersuchungen erhobenen Befunden, bei denen verschiedene dauerhafte "Abnormitäten" nach der Covid-19-Erkrankung bei Long-Covid-Patienten festgestellt  wurden. Eine ist, dass Virenreste an verschiedenen Körperstellen verbleiben können. Entsprechend der Unsicherheit der Ursachen und der Komplexität der Symptome befinden sich Therapien erst im Versuchsstadium.  

Die Liste möglicher Covid-19-Folgen wird ständig erweitert.  Forschende in Großbritannien verglichen die Daten einer großen Zahl von Covid-19-Genesenen (mit Alpha Infizierte) und Nichtinfizierten. Bei der Gruppe der Infizierten traten deutlich mehr Krankheitserscheinungen auf als bei der Kontrollgruppe der Nichtinfizierten. Die Berichterstatter fanden "62 Symptome, die nach 12 Wochen signifikant mit einer SARS-CoV-2-Infektion assoziiert waren". (Die WHO definiert 33.). An vorderster Stelle der oft miteinander verbundenen Symptome standen Geruchsverlust, Haarausfall, Niesen, Sexstörungen, aber auch erwartete Leiden wie Kurzatmigkeit, Müdigkeit, Schlafstörungen, Fieber, neurologische Störungen z. B. Amnesie, u. a. Hervorhebensnswert ist, dass das Risiko diese Symptome zu erleiden, bei Frauen, ethnischen Minoritäten, sozio-ökonomisch Benachteiligten, Vorerkrankten, Rauchern und Übergewichtigen höher ist. Kurzum: Eine Disposition für Long-Covid-Symptome besteht bei einer "lower health-related quality of life" (geminderten gesundheitsbezogenen Lebensqualität) und einer schwach ausgeprägten psychischen Widerstandskraft (Resilienz).

Medizinische Folgen von Covid-19-Erkrankungen und damit verbundene Auswirkungen werden zum gesellschaftlichen Problem, schon allein wegen der wirtschaftlichen Belastungen (z. B. Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, Behandlungskosten). Auch dies sollte im Umgang mit der Ansteckungsgefahr und der Einstellung zur Impfung berücksichtig werden.

"Corona"-Forschung - viele Fragen, viel Bewegung

Wie üblich bei einem Feld mit vielen ungeklärten Fragen, ist die Forschung im Fluss, genauso wie das Viren- bzw. Infektionsgeschehen und die menschlich-gesellschaftlichen sowie politischen Reaktionen hierauf. 

Befunde und Aussagen zum Viren- und Infektionsgeschehen sind nicht immer eindeutig und übereinstimmend, auch der Grad der Gesichertheit von Datenerhebungen und Interpretationen ist unterschiedlich. Ich zeichne nicht isolierte Aussagen, sondern auf Konsens zulaufende Tendenzen nach. Es geht hier nicht um „Meinungen“ oder „Glauben“; ich schreibe auch keine "Werbebroschüre" für Corona-Impfungen oder staatliche Massnahmen ( die ich eher mangelhaft als ausreichend finde),  sondern beziehe mich auf klinische Beobachtungen und datenbasierte Befunde - soweit ich sie als informationssuchender Nichtfachmann überblicken kann. Daraus ziehe ich meine Schlüsse, die sich mit denen eines Großteils der Experten decken.

Das Forschungsfeld "Corona" sollte nicht nur unter Experten verhandelt werden. "Corona" betrifft uns alle. Es muss auch Nichtfachleute geben, die die Forschungsberichte "übersetzen" und ihre Ergebnisse weitergeben. Mit eventuellen  Einseitigkeiten, Verkürzungen oder Lücken werden kritische Leser umzugehen wissen.

"What´s going on? ... we've got to find a way"

Nach wie vor gilt: „Ein Virus diskutiert nicht. Ein Virus kümmert sich nicht um deine oder meine Meinung. Ein Virus lebt nach eigener Naturgesetzmäßigkeit. Also lamentiere nicht, sondern benutze Deinen Verstand! Tue das Notwendige und schütze Dich und mich und andere!"

Man kann es so sehen und ausdrücken - vereinfacht und vermenschlicht: es spielt sich ein Wettbewerb in der Selbstbehauptung zwischen zwei Naturgattungen ab, dem Sars-CoV-2-Virenstamm und der menschlichen Spezies.  Diese Art von Viren kann sich nur auf unsere Kosten behaupten. Eine Balance oder nützliche Kooperation zwischen Viren und Wirten stellt sich in diesem Fall nicht ein. So sind wir herausgefordert uns in der Interaktion mit den Viren zu behaupten.

Es ist noch nicht ausgemacht, wer erfolgreicher sein wird, der Virenstamm oder die Menschheit.

„Je besser wir in der Forschung werden, je wirksamer unsere Impfungen und Mittel werden, desto größer wird der Druck auf das Virus – und es verändert sich schneller und gewissermaßen gezielter. Es ist ein spannendes Wechselspiel. Das Virus ist einfallsreich – aber die Menschen sind es auch.“ (Luka Cicin-Sain,Infektionsforscher). 

Hoffentlich!

 

 
Graphik: mdr.de 07/02/22

Bezugsquellen:

P. Kohlhöfer, Pandemien. Wie Viren die Welt verändern, Frankfurt/M. 2021, S. 227 ff.; 

rki.de: Sars-CoV-2 - Virologische Basisdaten sowie Virusvarianten / Impfen / Monitoring des COVID-19-Impfgeschehens in Deutschland,
Monatsbericht des RKI vom 07/07/22
/ Wochenbericht vom 18/08/22 / Was ist Long Covid?; Epidemiologisches Bulletin 21, 25/05/22 (Aktualisierungen der Covid-19-Impfempfehlungen)

Paul-Ehrlich-Institut / pei.de: Sicherheitsbericht; Sind infektionsverstärkende Antikörper (ADE) ein Problem bei COVID-19-Impfstoffen?

World Health Organization (WHO): COVID-19 Weekly Epidemiological Update, 06/07/22 

helmholtz.de - Artikel 1: Was kommt nach Omikron?; helmholtz.de-Artikel 2: Schützt eine Corona-Impfung vor Long Covid?

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